Die Blasenwelten von Print und Web

Filterblasen nennt man abgeschlossene soziale Räume, in denen Gleichgesinnte über ihnen wohlbekannte Themen reden und dabei eigene Werte und Sichtweisen immer weiter kultivieren und sich gegenseitig bestätigen. Der Blick über den Tellerrand wird dabei oftmals aus Bequemlichkeit vermieden.

Heute war ich in meiner alten Hochschule in Mainz zu Gast und konnte mich mit zwei meiner damaligen Typografie-Professoren, sowie einer Reihe von Masterstudent/innen aus dem Studiengang Deep Typography über Webtypografie austauschen.

Meine Beobachtung ist, dass sowohl die klassischen Printdesigner als auch wir Webdesigner nicht genügend voneinander lernen, und jede Gruppe ein wenig in ihrer eigenen Blase lebt. Ich stellte unter anderem fest, dass

  • visuelle Trends im Grafikdesign sich kaum im Webdesign widerspiegeln, und umgekehrt. Jede Disziplin hat unabhängige Trendzyklen und eigene herausragende Benchmarks und Protagonisten.
  • mutige und neuartige typografische Entscheidungen im Webdesign fast ausschließlich auf Websites „von Designern für Designer“ stattfinden, nicht bei echten Kundenprojekten.
  • Grafikdesigner immer noch Schwierigkeiten haben, den extrem hohen Stellenwert eines mediengerechten, flexiblen Webdesign-Systems zu würdigen. Das krass durchgestaltete, aber starre Design ohne responsive Komponenten gilt immer noch als akzeptabel.
  • Webdesigner (mich eingeschlossen) oftmals ziemlich einfältig sind, was die Möglichkeiten angeht, die ein mutiger und radikaler Einsatz von Typografie eröffnet. „Gutes“ Webdesign erschöpft sich bei diesen Leuten oftmals in einem Aneinanderreihen von Best Practices, die man von Bootstrap, Divi und den anderen Baukästen kennt. Detailtypografische Parameter spielen kaum eine Rolle.

Was fehlt

Um es kurz zu machen: Es gibt zu wenig Beispiele von typografischer Gestaltung im Webdesign, die

  • frisch und neuartig, mutig und radikal, verblüffend und detailverliebt daherkommt.
  • dabei mediengerecht bleibt und auch im responsiven und barrierearmen Kontext funktioniert.
  • ein Mindestmaß an Usability und Lesbarkeit (falls nötig) offeriert.
  • ein reales Produkt oder eine normale Dienstleistung darstellt und nicht im Kontext einer Agentur-Selbstdarstellung stattfindet, oder explizit an Designer gerichtet ist.
  • technisch sauber und performant umgesetzt ist.

Bereits beim Verfassen meines #webtypobuch fiel es mir extrem schwer, solche kreativen Beispiele zu finden. Meine These zur Begründung: Die eingefleischten Webdesigner sind sehr vorsichtig und zu stark von der Usability-Polizei eingeschüchtert. Gleichzeitig sind die wilden und experimentellen Grafikdesigner zu weit von den Realitäten des Mainstream-Webs entfernt, so dass sich hier keine gegenseitige Befruchtung einstellen mag.

Man könnte fast zu der Vermutung gelangen, dass es faktisch unmöglich sei, beide Welten unter einen Hut zu bringen – was ganz schön schade wäre.

Was müssen wir tun?

Erster Schritt: Lasst uns den Gegenbeweis antreten! Sammeln wir alle zusammen einmal inspirierende Websites, die einige oder gar alle der obigen Aspekte in sich vereinen. Eine weitere Designgalerie nach dem Muster von DMIG? Ja, aber schmeißen wir doch mal alle Agenturportfolios und alle nichtresponsiven Projekte raus! Dann bleibt nichts mehr übrig? Eben! (Ich stelle mich gerne als strenger Kurator zur Verfügung und brenne darauf, die Liste zu veröffentlichen und schick aufzubereiten.)

Zweiter Schritt: Machen wir unseren Kunden einen mutigeren Umgang mit Schrift, Fotos, Illustration, Animation und Farbe schmackhaft. Kämpfen wir für mehr individuellen Look, wenn wir schon alle die gleichen responsiven Layout-Strukturen verwenden müssen. Kurz gesagt: Macht Werbung für mehr krassen Style, jetzt wo das Grundgerüst der responsiven Technologie so stabil verankert ist!

Was meint ihr, kriegen wir da was zustande? Ihr kennt die Kommentarfunktion, ihr kennt Twitter! Dankeschön.

Update 9.11.2015: Owen Williams hat auf TNW News ähnliche Gedanken wie ich.